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Warum ich kein Spießer sein will

  • Autorenbild: Anonym
    Anonym
  • 26. Apr. 2023
  • 1 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 14. Okt. 2023

Kai ist Journalist, hat einen eigenen Blog und die Welt ist sein Zuhause. Hier erzählt er uns seine Geschichte übers spießig sein und warum er es lieber nicht sein will


Rosenpflanze in einem Vorgarten. Sie wirft ein Schatten an die Hauswand. Alle Blühten sind auf und Rot

 

Warum ich kein Spießer sein will


Zack. Bumm. Der Satz sitzt. „Man, was bist du denn für’n Spießer?“ Mein Kumpel biegt sich vor Lachen. Bei mir kommt der Witz nicht an. Im Gegenteil. Mir wird ganz anders. Der Verbalschlag schmerzt. So ungefähr muss sich ein Boxer fühlen, wenn ihn eine flotte Rechte direkt zwischen die Hörner trifft. Ohne Deckung. Frontalschaden. Dr. Klitschko lässt grüßen. Ich taumele innerlich. Dann gehe ich zu Boden. Wäre ich eine Comicfigur, über meinem Kopf würden jetzt jede Menge wirrer Zeichen kreisen. Was soll ich sein? Ein Spießer? Ich!? Es ist einer dieser Momente, in denen die Selbstwahrnehmung in so krassem Gegensatz zu der Meinung anderer steht, dass das eigene Ego kurzeitig k.O. geht. Jedes andere Wort hätte mich kalt gelassen. Alles, nur nicht Spießer. Wer war denn bitteschön mit 15 Jahren schon alleine als Austauschschüler in die USA gegangen? Meine Klassenkameraden haben da doch immer noch an Mamis Rockzipfel gehangen. Später bin ich mit Rucksack und ein paar Euro im Portemonnaie durch Südamerika getrampt. Nach der Ausbildung habe ich die bequeme Festanstellung ausgeschlagen, um mich in die ungewisse Selbstständigkeit zu stürzen. Immer schön gegen den Strom. Spießer? Das ich nicht lache! Diese sieben Buchstaben sind seit jeher ein rotes Tuch für mich gewesen. Ganz oben auf dem Index. Sie verkörpern so ziemlich alles, was ich nicht sein wollte. Sie riechen nach Mief. Spießer sind für mich Wachtote, die jedem Spaß am Leben abgeschworen haben. Und obendrein andere mit ihrer freudlosen Borniertheit bedrohen. Das mag jetzt übertrieben klingen. Für mich ist es das aber keineswegs. Als die erste Dröhnung langsam nachlässt, versuche ich, die Lage zu kapieren. Was geht denn hier gerade ab, frage ich mich. Neben mir steht Martin. Den hätte ich jetzt bei so viel innerem Zwiegespräch fast vergessen. Der Idiot hat immer noch nicht geschnallt, dass sein beiläufiger Kommentar einen extrem wunden Punkt bei mir getroffen hat. Ein breites Grinsen ziert nach wie vor seine Fresse. Ja, sehr komisch. Applaus, Applaus. Ich gehe zum Gegenangriff über. „Haste sie noch alle?“, stammele ich. Martin bleibt unbeeindruckt. Er zeigt auf meinen Schreibtisch. Akkurat aufgereiht liegen da meine Textmarker. Bündig. Alle auf einer Höhe. „Das ist ja krass. Wie bist du denn drauf? Voll ordentlich – und spießig.“ Es dämmert mir langsam. Trotzdem, ein paar Textmarker in Reih’ und Glied machen doch noch keinen Spießer – oder etwa doch? Ein kleiner Tick. Das könnte man noch durchgehen lassen. Ich hab’s halt gern übersichtlich. Äußere Ordnung am Arbeitsplatz überträgt sich auf mein Inneres. Das war schon immer so. Ich hasse Chaos. Aber was ist, wenn mein Ordnungswahn tatsächlich das Anzeichen einer unvorstellbaren Wesensveränderung ist, die sich bis dato im Verborgenen heimlich und perfide über mich hergemacht hatte? Ich fühle mich wie ein Teenager, den die Eltern beim Wichsen erwischt haben. Peinlich. Wie gerne wäre ich jetzt Alice. Hinab ins Loch. Und ab ins Wunderland. Ganz weit weg. Ich brauche eine Auszeit von der brutalen Wirklichkeit, die mich gerade bloßgestellt hat. Da ich aber nicht im Märchen mit sprechenden Katzen bin, weise ich Martin den Weg zur Tür. Der Arme weiß glaube ich immer noch nicht, was er da gerade angerichtet hat. Ich muss nachdenken. Dringend. Alleine. Wie konnte es nur soweit kommen? Spießer, das waren immer die anderen. Meine Kumpels, die nach der Schule nicht aus dem Muff ihres Minikosmos rausgekommen sind. Für die zwei Wochen auf Malle bei Onkel Jürgen so exotisch waren wie für andere Weihnachten auf den Osterinseln. Und meine Großeltern sowieso. Gehäkelte Überstülper für die Klopapierrolle auf der Rückbank im Auto. So was eben. Aber ich? Nein. Das Etikett hätte ich mir nie angesteckt. Alles, nur kein Spießer werden. Das hatte ich mir von klein auf geschworen. Und jetzt? Hatte ich gerade mal 35 Jahre durchgehalten und war nun dabei, fröhlich meine Ideale in die Tonne zu kloppen? Ich brauche Klarheit. Erstmal checken, was ein Spießer überhaupt ist. Also im wahrsten Sinne des Wortes. Begriffsklärung. Der Duden muss das wissen. Und er tut es: „Als Spießbürger oder Spießer werden in abwertender Weise engstirnige Personen bezeichnet, die sich durch geistige Unbeweglichkeit, ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen, Abneigung gegen Veränderungen der gewohnten Lebensumgebung auszeichnen.“ Ok, damit lässt sich arbeiten. Ich fasse zusammen: Engstirnig. Geiste Unbeweglichkeit. Konformität. Angst vor Veränderung. Schön der Reihe nach. Ich brauche Gewissheit. Hatte Martin mit seinem Urteil am Ende doch Recht gehabt? Auch wenn’s vielleicht weh tut. Die Wahrheit muss ans Licht. Ich lege mich auf die Couch. Augen zu und durch. Freud kennt keine Gnade. Punkt eins. Engstirnig. Meine grauen Zellen rattern. Fällt es mir leicht über meinen eigenen Schatten zu springen? Lasse ich öfter die berühmten Fünfe gerade sein? Oder beharre ich stur auf meinem Standpunkt? Nach dem Motto: Lass’ die anderen doch sabbeln, ist mir doch Latte. Gerade will ich das Häkchen überall bei „Nein“ machen, da meldet sich mein Gewissen und flüstert: „Wirklich? Denk nochmal nach!“ Ich gebe auf. Widerspruch zwecklos. Engelchen schlägt Teufel. Erst gestern Abend habe ich aus dem Nichts ein Fass aufgemacht. Es war wie immer: Büroschluss und kein Parkplatz vor meiner Wohnung. Runde um Runde kurve ich wie ein Blöder um den Block. Trommelnde Motoren, dröhnende Ohren. Lalala. „Mambo“, Grönemeyer – alles klar? Dann tut sich plötzlich doch eine Lücke auf. Feierabend, ich komme! Stell’ schon mal das Pils kalt. Ich atme durch, setze den Blinker. Gerade will ich einschlagen, als aus dem Nichts ein Smart heranflitzt. Dreist. Ich schäume vor Wut. Die junge Dame ist sich keiner Schuld bewusst. Mit dem treudümmsten Dackelblick will sie die Situation zu ihren Gunsten regeln. Die Waffen einer Frau? Keine Chance. Nicht mit mir. Das ist mein Spot. Sturheit schlägt Charme. Engstirnig? Ja, ein bisschen. Auch wenn die Einsicht weh tut. Aber ich bin ja hier nicht bei einem dieser Zeitschriften-Psychotests à la „Bin ich gut im Bett“, bei denen man schummelt bis die Schwarte kracht, um am Ende stolz lesen zu können kann, was für ein toller Hecht man doch ist. Weiter geht’s. Wie ist es um meine geistige Beweglichkeit bestellt? Nicht besonders gut, fürchte ich. Die hitzige Diskussion mit einem Kollegen klingt mir noch in den Ohren. Es ging um Politik. Alles fing ganz harmlos an. Die anstehenden Wahlen und was davon zu erwarten sei. Wir foppten uns. Alles im Rahmen. Irgendwann wurde der Ton aber rauer. Schließlich hatten wir uns verbal so verkeilt, dass nichts mehr ging. Jeder war mit dem Ausschaufeln seines Schützengrabens so beschäftigt, dass die Toleranz auf der Strecke blieb. Es dämmert mir. Vielleicht bin ich tatsächlich ein Spießer und habe es nur noch nicht gemerkt. Und wenn? Wäre das so schlimm? Schlummert wohlmöglich in uns alles einer? Ich schweife gedanklich ab. Mir kommt Loriot in den Sinn. „Mein Name ist Lohse, ich kaufe hier ein!“ Genial. So man macht Spießersein Spaß. Schön ablachen und mit dem Finger auf andere zeigen. Bin ja nicht ich. Wenn einer dem deutschen Spießer ein Gesicht gegeben hat, dann Loriot. Keiner will wie Herr Lohse sein, aber alle finden sich in der Figur wieder. Kommt man letztlich gar nicht darum herum, ein Spießer zu sein? Möglicherweise nicht von Geburt an. Aber es ist ja möglich, dass man über die Jahre zwangsläufig immer spießigere Züge annimmt. Manche mehr, manche weniger. Es gibt Abstufungen. In der Tendenz sind jedoch alle gleich. Spießigkeit als evolutionär bedingtes Schicksal? Ein Theorie, über die es sich nachzudenken lohnt. Seit wann gibt es überhaupt Spießer? Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftige, umso mehr Fragen tauchen auf. Ich verlasse kurz die Couch und setzte mich an den Rechner. Jetzt muss Google helfen. S-P-I-E-ß-E-R. Der allwissende Internetgigant liefert zuverlässig Antworten. Ich fange an zu lesen. Die ersten Spießbürger gab es im Mittelalter, lerne ich. Sie waren Bewohner von Städten, die ihr Hab und Gut mit Spießen bewaffnet gegen Räuber oder andere Schurken verteidigten. Klingt logisch. Und ist zunächst einmal ja auch gar nichts Ehrenrühriges. Erst später bekam Spießer zusehends einen negativen Beigeschmack, als das Wort vermehrt als Kampfbegriff von liberalen Gruppierungen gegen das reaktionäre Bürgertum verwendet wurde. Das reicht mir. Ich schwing mich zurück auf die Couch. Psychoanalyse Teil II. Was kommt jetzt? Ach ja, Konformität. Also gesellschaftliche Normen so hinnehmen, wie sie sind. Immer schön kuschen, nur nicht aufmucken. Gut, die letzte Demo, auf der ich dabei war, liegt schon eine Ewigkeit zurück. Das muss zu Beginn des zweiten Golfkriegs gewesen sein. Die Mauer war gerade gefallen. Und mitmarschiert bin ich auch nur, weil’s dafür schulfrei gab. Seitdem? Bankenskandale, Finanzkrise, Atomausstieg oder NSA-Bespitzelung? Alles wichtig. So wichtig dann aber auch irgendwie nicht. Zu den Protestmärschen habe ich mich allenfalls mal via PHÖNIX live zugeschaltet und stumm genickt: Richtig so, da muss man was gegen tun. Man, damit waren die anderen gemeint. Super, was sich der Snowden getraut hat. Das verdient Beifall. Aber dafür das ganze Leben den US-Geheimdienst im Nacken haben und in Bolivien Kokablätter kauen? Ich weiß nicht. Ich fühle mich trotzdem schuldig. Was war ich für ’ne erbärmlich feige Wurst. Und wann habe ich denn zuletzt grundlegend was an mir geändert? Ein Blick auf die Playlist meines iPods sagt alles. Das Aktuellste ist ein Springsteen-Album von 2008. Der Boss groovt zwar noch ohne künstliche Hüfte. Die Zukunft des Rock & Roll ist er aber auch schon lange nicht mehr. Musikalischer Stillstand. Es kommt noch schlimmer. Neulich bin ich mit dem Auto meiner Eltern unterwegs gewesen. Traditionell ist dort immer ein Oldie-Sender im Radio eingestellt. Früher war es das Erste, was ich nach Umdrehen des Zündschlüssels geändert habe. Nun habe ich mich dabei ertappt, wie ich nicht nur den Sender drinnen gelassen habe. Ich habe auch bei „Mama Mia“ fröhlich mit den Fingern auf Lenkrad getrommelt. Geht’s noch? Ok, ich geb’s auf. Martin hat mit seinem Urteil wohl Recht gehabt. Ich bin entlarvt. Es besteht kein Zweifel. Die Selbstdiagnose ist hart, aber unumstößlich: Hilfe, ich bin ein Spießer! Das Gute: Man kann etwas dagegen tun. Noch ist es nicht zu spät. Der Spießer kommt schleichend. Das habe ich gelernt. Man merkt es erst nicht und plötzlich ist er da. Er mag’s bequem, schön gemütlich. Ich spring’ von der Couch auf. Mit einem Wisch fege ich die Textmarker vom Schreibtisch. Spießer, weiche von mir!






 
 
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